Bist du spirituell?

Ein wundervoller Gastbeitrag

von Christine Fleckenstein.

https://heilungswege.wordpress.com/2013/05/25/bist-du-spirituell/

 

„Die Leute staunen und sagen, dass es ein Wunder sei, auf dem Wasser zu laufen. Nun, für mich ist es ein Wunder auf der Erde zu gehen.“ Thich Nhat Hanh

Eigentlich mag ich das Wort „spirituell“ gern. Ich würde mich selbst als spirituellen Menschen bezeichnen, und umgebe mich auch gern mit solcher Art Menschen. Aber zur Zeit wird mir diese Bezeichnung immer mehr zum Reizwort. Und mehr und mehr suspekt.

 

Dieses Attribut ist mir in den letzten Tagen so oft in Zusammenhängen begegnet, über die ich ehrlich gesagt schon ein wenig erstaunt bin. Ich wundere mich, wer und was so alles als „spirituell“ gilt. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, als ginge ein großer Teil der „spirituell Suchenden“ einer riesigen Täuschung in die Falle. Was da passiert, ist kein Erwachen und Bewusstwerdung, sondern einfach nur eine Umlenkung der Identifikationen und des Ego – weg von der materiellen Welt hin in eine geistig-esoterische Welt. Die Identifikation und das Ego werden nicht weniger – im Gegenteil!!! Da wird eine Illusion gegen eine andere, viel subtilere, getauscht… vom weltlichen Arschloch zum spirituellen Gutmenschen. Ei, ei, ei, wacht endlich auf, möchte ich da am liebsten schreien. Ihr verstrickt euch noch so viel tiefer ins Ego und in die Verblendung, als wenn ihr nie auf die spirituelle Suche gegangen wärt! So mancher „weltliche Blindgänger“ ist noch präsenter und bewusster, als diese esoterischen Überflieger. Letztere sind viel gefährlicher als ein „ganz normaler“ unbewusster Mensch, denn sie fühlen sich ethisch überlegen, in ihrer seelischen Entwicklung „weiter“, und sind sicher, die Wahrheit, die Moral und den göttlichen Segen für sich gepachtet zu haben. Und sie haben ihr Ego natürlich schon längst überwunden, denn sie sind ja immer in Licht und Liebe. Und wenn sie nicht so ein reines Herz hätten und so weit entwickelt wären, dann könnten sie ja auch nicht mit Engeln kommunizieren, in der Akasha-Chronik lesen, Verstorbene sehen, Mutter Maria channeln, Astralreisen unternehmen und die Aura ihrer Mitmenschen wahrnehmen. Und die ganz Großen unter ihnen lassen dann sogar noch Asche aus ihren Händen rieseln und laufen übers Wasser. Wow, toll!!!

So, jetzt aber genug des Zynismus. In Wirklichkeit macht es mich einfach nachdenklich und fassungslos, wie viel Verblendung und aufgeblähtes Ego unter den sogenannten Spirituellen herrscht. Hattet ihr nicht irgendwann mal eure Suche begonnen mit der Sehnsucht, eure eigene Essenz und Göttlichkeit zu erfahren, ganz im Hier und Jetzt aufzugehen, in die bedingungslose Liebe einzutauchen, von der Illusion der Trennung und der Dualität in die Einheit allen Seins zu erwachen? Wie konnte es sein, dass ihr von diesem Weg der Einfachheit und Ursprünglichkeit abgedriftet seid auf einen Pfad der spirituellen Überheblichkeit und Täuschung? Passt auf euch auf. Macht die Augen auf, lasst euch nicht verführen! WACHT AUF!

Ich denke, das große Problem ist, dass es in unserer Kultur keine gelebte spirituelle Tradition gibt. Die Menschen, die eine Sehnsucht nach Tiefe, nach Bewusstheit und nach Antworten auf die essentiellen Fragen des Lebens verspüren, wenden sich eben zum großen Teil der Esoterik zu. Hier hat sich mittlerweile eine regelrechte Parallelwelt entwickelt. Was in unserer stofflichen Welt das Bankkonto, das fette Auto, der tolle Job, der soziale Status, ein attraktives Aussehen, diverse Titel und Diplome und die Designerwohnung ist, ist in der „spirituellen“ Welt die Hellsichtigkeit, die Fähigkeit der Zukunftsdeutung, die Kommunikation mit Engeln, Geistführern, Verstorbenen und aufgestiegenen Meistern, alte Inkarnationen in Atlantis, die Gabe zu heilen, usw. Der eine identifiziert sich mit seiner teuren Segelyacht, der andere mit seiner Fähigkeit, in vergangenen Leben lesen zu können, der eine mit seinem durchgestylten Modelkörper, der andere mit seiner Herkunft vom Planeten Sirius. Wer hat nun das größere Ego? Wer ist tiefer auf dem Irrweg?

„Jemand sagte einmal zu Ramakrishna: ‚Mein Meister ist ein großer Meister. Er kann über Wasser gehen.’ Ramakrishna antwortete: ‚So ein Unsinn! Ich gebe dem Fährmann zwei Pennies und schon bringt er mich ans andere Ufer. Dein Meister ist ein Dummkopf. Geh zu ihm und mach ihm klar, dass er sein Leben nicht verschwenden soll. Es passiert so leicht.’ Der Verstand sehnt sich nach solchen Spielchen. (…) Manchmal denkt er an Geld oder daran, ein größeres Haus zu haben, mehr respektiert zu werden oder über mehr politische Macht zu verfügen. Wenn du dich schließlich der Spiritualität zuwendest, ist dein Verstand immer noch der gleiche. Jetzt sehnst du dich nach einem Mehr an geistigen Kräften – Telepathie, Hellsichtigkeit und all den anderen Unsinn. (…) Das Leben selbst ist ein Wunder, aber das Ego ist nicht bereit, diese Tatsache zu akzeptieren. Es möchte etwas Besonderes leisten, etwas, das niemand sonst kann, etwas Außergewöhnliches.“ Osho

Verstehst du? Es geht in diesem Leben genauso wenig um Hellsichtigkeit wie es um ein teures Luxus-Auto geht. Für viele gilt ein Mensch erst dann als wirklich spirituell, wenn er offensichtlich über „besondere“ Heilkräfte verfügt, alle möglichen Energien wahrnehmen kann, die Zukunft voraussehen kann, verirrte Seelen ins Licht führen kann, mit der geistigen Welt kommunizieren kann, und so weiter und so fort. Und in je höherem Maße er das praktiziert, umso weiter fortgeschritten, umso spiritueller und umso bewusster soll er sein. Und dementsprechend: Wer in dieser Szene etwas gelten und sich Anerkennung verschaffen will, wer sich den massenhaften Zulauf ratsuchender Menschen sichern will, wer hier zu den Großen zählen will, der muss schon ordentlich mit diesen „außergewöhnlichen Fähigkeiten“ klotzen. Seid ihr denn noch zu retten? Seht ihr nicht, wie verrückt das ist? Freu dich, wenn du diese Fähigkeiten hast, halt den Mund und geh weiter. Identifiziere dich nicht damit, mach dich nicht wichtig, nutze diese Gabe nicht aus, um Macht über andere zu haben. Und wenn du diese Fähigkeiten nicht hast, freu dich, dass diese Versuchung an dir vorüber geht, und widme dich nicht noch extra der Schulung dieser Dinge. Du brauchst sie nicht, es wäre bloße Zeitverschwendung! Schenk dieser Begabung bei anderen Menschen keine große Aufmerksamkeit, damit hilfst du ihnen am meisten. Sie hat keinen Wert an sich. Es ist nichts, was du für ein spirituelles, waches, bewusstes Leben brauchst. Und du brauchst auch diese Menschen nicht. Es gibt kein Problem, für dessen Lösung du nicht selbst alles in der Hand hättest, und es gibt keine Frage, auf die du nicht in deinem eigenen Herzen eine Antwort finden würdest. VERTRAU DIR. SEI MENSCH. Such nicht nach Wundern und wunderbegabten Wesen. Nimm endlich das Wunder wahr, das du selbst bist, und sieh das Wunder im Kleinsten der Schöpfung. Hab den Mut, ein Nichts zu sein und dich aufzulösen im Ozean der Liebe. Nur so findest du nach Hause. Lass dich nicht ablenken von Zauberkünstlern, Gurus und Marktschreiern. Die wahrhaft Großen und Erleuchteten sind die Leisen, die Einfachen, die Demütigen, die, die DU nie erkennen wirst, solange du mit den begierigen, nach Anerkennung, Führung und Bestätigung heischenden Augen des Ego statt mit den klaren, unschuldigen Augen des Herzens schaust. Wie heißt es so schön in einem Zen-Spruch: „Wenn du Buddha triffst, töte ihn.“

Wenn du wirklich nach Antworten suchst, wenn du wirklich ein spirituelles Leben leben willst, dann hab endlich den Mut, in die Tiefe zu gehen – über oberflächliche Konzepte und Äußerlichkeiten hinweg. Tauch endlich ein ins Mysterium des Lebens statt in eine Parallelwelt zu flüchten. Geh durch deine Ängste und Schatten hindurch und entzünde dein Licht. Halte dich nicht auf mit einem Pseudo-Lichtlein. Du betrügst dich doch nur selbst! Die Wunderbegabten, die „besonders weit Entwickelten“, die sich zu Hauf auf dieser Welt tummeln, sind alles Feiglinge. Sie machen sich so lächerlich wichtig und glauben, schon so gut wie am Ziel zu sein. Dabei kratzen sie doch nur an der Oberfläche. Sie haben nur die Welten getauscht, nichts weiter. Und die Bewunderer solcher Menschen laufen einem armseligen Trugbild von Spiritualität hinterher, das sie nur immer weiter von sich selbst und von Gott entfernt. Wacht auf!

Was ist ein spiritueller Mensch? Eines steht fest: es hat rein gar nichts mit derartigen außersinnlichen Fähigkeiten zu tun. Das ist wie mit dem Singen, einer Fremdsprache oder der Malerei. Der eine hat ein großes angeborenes Talent dafür, der andere weniger. Einer hat viel Zeit ins Üben investiert, ein anderer weniger, und der nächste hat überhaupt kein Interesse daran. Kämst du auf die Idee, dass ein Mensch, der perfekt Tangotanzen kann, ein besserer oder bewussterer ist, als einer, der zwei linke Beine beim Tanzen hat? Oder dass ein Mensch, der Meister im Klavierspiel ist, weiter entwickelt ist, als einer, der gerade mal ein paar schiefe Töne auf der Mundharmonika hinkriegt? Wohl kaum, oder? Komisch, dass in der „spirituellen Welt“ ein anderer Maßstab gilt, und gewisse Begabungen mit dem Entwicklungsstand und dem Bewusstheitsgrad eines Menschen gleichgestellt werden. Und seltsam, dass gerade in einem Lebensbereich, in dem es ausschließlich ums Sein geht, so viel Wert aufs Tun und Können gelegt wird – und darauf, etwas Besonderes darzustellen, und sich abzugrenzen, statt eins zu werden mit allem. Hm, irgendwas stimmt doch da nicht, oder? Ein Mensch kann schon nicht sehr spirituell sein, wenn er sich selbst (oder bestimmte Leute) als besser, weiter entwickelt, auserwählter, begabter ansieht als andere. Sucht eure Meister nicht bei den Effekthaschern und Wichtigtuern, bei den vermeintlich „Besonderen“, sondern in denen, die ihr am geringsten achtet. Sie haben euch wirklich etwas zu lehren…

Schenk dein Vertrauen und deine blinde Bewunderung nicht denen, die dir Botschaften aus fernen Welten und fernen Zeiten überbringen, sondern denen, die dich lehren, im Hier und Jetzt zu sein und der Stimme deines eigenen Herzens wieder zu lauschen. Schau in die Augen eines aufrichtig Liebenden und erkenne dich selbst. Hab den Mut, in dich selbst hineinzuhören, vertraue dir und geh den Weg, den dein inneres Licht dir weist. Gib die Autorität über dein Leben nicht in fremde Hände. Öffne dein Herz und erkenne die Wahrheit, erkenne die Liebe. Sie liegt direkt vor dir. Du brauchst sie nicht zu suchen in vergangenen Inkarnationen, in Channelings von Kryon oder der weißen Bruderschaft, in Tarotkarten, in Engelsessenzen oder Botschaften von Verstorbenen. Die Götter waren wirklich weise, als sie den Schlüssel zum Himmel im Herzen des Menschen versteckten. Sie wussten, er würde überall danach suchen, auf den Gipfeln der höchsten Berge, in den tiefsten Tiefen der Ozeane, in den fernsten Galaxien, aber vor dem Weg in sein Heiligtum im Innersten würde er ewig zurückschrecken.

Geh in die Natur, beobachte einen Sonnenaufgang, spüre das feuchte Gras unter deinen nackten Füßen, werde eins mit einer schönen Blume, lass dich berühren vom zarten Grün der neuen Triebe der Nadelbäume – das alles kann dir mehr über die Liebe und dein Leben erzählen, als ein Mensch dies je könnte. DAS ist das Leben. Es ist hier und jetzt – in den einfachen Dingen. Die Wahrheit ist immer einfach, und sie zeigt sich jedem, der sich ihr öffnet, in jedem Augenblick!

Für mich muss ein spiritueller Mensch ein Radikaler sein, ein Ver-rückter, ein Revoluzzer. Einer, der bedingungslos JA zu diesem Leben und zu dieser Welt sagen kann. Der bereit ist, das Göttliche in allem und jedem zu finden. Einer, der dem Ruf seines Herzens folgt, der die vollkommene Verantwortung für sich übernimmt und der sich jeden Tag wieder für die Freiheit und die Unsicherheit entscheidet. Der jeden Moment wachsam und präsent ist, der aufgehört hat, Bekanntes nachzuplappern. Einer, der den Mut hat, aus der Masse heraus zu treten, der keinen Wert darauf legt, was andere über ihn denken oder sagen. Der den Mut hat, seine eigenen Antworten und seine eigene Wahrheit zu finden. Der bereit ist, alles loszulassen – alle gesellschaftlichen Konventionen, Normen, Prägungen, Dogmen, Masken, Rollen – um sein wahres, ursprüngliches Menschsein und seine heilige Essenz zu entfalten. Einer, der bereit ist zu sterben, um neu geboren zu werden. Einer, der den Mut hat, ein Nichts zu sein.

Bist du spirituell?

 

 

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